Blicke nach Innen
Kurzgeschichte geschrieben am 7.5.06, in der Nacht vor der Entlassung aus der Uniklinik Regensburg
„So schön ist es hier draußen!“
murmelte er vor sich hin, als
er der Sonne nachstarrte, die gerade hinter der Kante des Krankenhausflachdachs
zu versinken drohte. Die Arme hatte er halb ausgebreitet, Ihr zugewandt als
wollte er sie festhalten.
„So schön ist es hier draußen!“,
klang es erneut verwundert und erstaunt – fast ungläubig – aus dem schiefen Mund, der gerade noch aus
der dick in Mullbinden eingewickelten rechten Kopfhälfte herauslugte. Fast entschuldigend drehte
sich der Kopf in meine Richtung, lächelte ein wenig unsicher und sagte erneut sinnierend:
„So schön ist es hier!“
Vorgestern war der dicke alte Mann operiert worden. Man hatte ihm einen Krebstumor aus den Speicheldrüsen
entfernt. Dabei wurde auch der Nerv der rechten Gesichtshälfte etwas in Mitleidenschaft gezogen. Peter lebt schon seit 10 Jahre allein in seiner Zwei-Zimmerwohnung. Seine Frau hatte ihn verlassen und die Wohnung halb leer geräumt. Keine Frau würde
mehr seine vier Wände betreten, hatte er geschworen. Und er würde heute noch wegen Mordes im Gefängnis sitzen, hätte er sie damals erwischt.
Dann ließ er es sich gut gehen.
„Wenn keiner mehr etwas Gutes für Dich tut, so tue selbst etwas für Dich!“
beschloss er und begann zu essen. Bis der Kühlschrank leer war. Und er füllte ihn wieder auf und leerte ihn erneut. Und leerte und füllte. Dabei nahm er zu und nahm zu, bis er zuletzt 140 kg auf die Waage brachte. Seine Arbeit konnte er schließlich nur noch schleppend verrichten, bis er schließlich seinen Arbeitsplatz ganz verlor.
Er war nicht nur allein, er war nun auch zu nichts mehr nutze. Niemand brauchte ihn und wollte ihn. So begann er Bewerbungen zu schreiben. 50 Bewerbungen blieben erfolglos. Oft stand er auf der schmalen Eisenbahnbrücke, die über die Donau führte.
„Nach links in den Fluss hinab…? Oder nach rechts auf die Schienen..?
Nach links…? .. oder nach rechts..?..
pochte es immer stärker in seinem Hirn. So einfach wäre es . Für niemanden mehr nütze. Keiner würde ihn vermissen. Dann kam die einundfünfzigste Bewerbung. Er wollte, dass es seine letzte sei.
„Kommen Sie doch mal vorbei!“
sagte 2 Tage darauf der Anrufer. Und er hatte plötzlich Arbeit!
Das Wunder war geschehen. Peter konnte es zunächst nicht glauben. Er hätte alles gemacht. Es waren zwar nur zwei Tage in der Woche. Aber er hatte eine Arbeit. Er konnte nach Hause kommen und das Gefühl genießen können:
„Hey, Peter, du warst heute schon in der Arbeit!“
Nach kurzer Zeit hatte er schon 15 kg abgenommen. Und die Brücke war weit weg gerückt. Sehr weit. Dann
kam der Tumor.
„Noch einmal gut gegangen!“
Hatte der Arzt gestern nach der Operation gesagt.
Peter stand da, und sagte eine Weile nichts mehr.
Schaute noch einmal sehnsüchtig zur Sonne, wandte sich langsam, unendlich langsam dem Treppenaufgang zu, nicht loslassen wollend.
„So schön ist es hier draußen!“
quoll es noch einmal mit einem langen Atemzug aus seinem schiefen Mund: Als hätte er seinen Blick immer nur in die finstere Höhle seines Inneren gewandt gehabt.
Die Sonne war untergegangen. Aber Peter hatte ein Stück davon in sein Herz retten können.
©7.5.2006 von Hans Sakowski