Dora - Das Gute und das Böse
Eine Taube gurrt auf dem Balkon…
Neugierig neigt sie den Kopf schräg, ein Auge peilt zielgenau auf meinen Tisch – ich folge dem Blick – und entdecke einen einzelnen Brotkrümel. Objekt der Begierde. Für mich wertlos. Für sie begehrenswert.
Sie neigt den Kopf ruckartig zur anderen Seite. Tippelt aus der Ecke zur Mitte des Geländers. Hebt zögernd ein Bein. Setzt es wieder ab. Es ist verkrüppelt. Zwei Zehen fehlen. Sie war in eine Drahtschlinge geraten. Ob sie das Bein hob, weil es ihr weh tat?
Süß!
Ich nenne sie Dora, obwohl ich nicht weiß, ob sie ein Weibchen ist. Und ich bin gerade dabei, sie lieb zu gewinnen, als mir siedend heiß einfällt, dass sie Bakterien und Krankheiten übertragen kann, die sich in Lunge und Darm festsetzen.
Man bezeichnet sie als Ratten der Lüfte. Für uns Menschen das Böse also. Aber was sind sie? Lebewesen, von Gott gemachte Geschöpfe. Wie wir. Mit Sicherheit nicht als das „Böse“ in die Welt gesetzt. Mit Sicherheit nicht als das „Gute“ in die Welt gesetzt.
Eine Sache der Perspektive.
Gut und Böse – Erfindungen des menschlichen Gehirns? In der Natur gibt es nur Gegensätzlichkeiten. Es gibt kein Gutes und kein Böses. Denn je nach Blickwinkel ist einmal das Gute das Böse, das andere Mal das Böse das Gute.
Wenn demnächst Jäger auf die Tauben angesetzt werden und alle abgeknallt werden sind die Menschen für die Tauben das Böse.Dora respektiert uns. Sie passt auf, dass ihr nichts passiert.
Wir passen auch auf. Aber respektieren wir auch?
Die Natur hätte es verdient!
Hans Sakowski