Josef und das Meer

Schatten in der Karibik

Der Umgang mit Masken ist gefährlich:
Mit Masken vertrieb man einst böse Geister.
Mit Masken holen wir sie heute herbei.

Hansjürgen Sakowski

Josef ist glücklich. Er war allein.

Denn alle schliefen, selbst Johnny war auf der Cockpitbank eingedöst. Nachdem Josef mit Gerhard die Wache gewechselt hatte, war Paul noch eine Weile wach geblieben und dann müde geworden. Josef hatte Paul gesagt, er käme schon alleine zurecht und er könne ins Bett gehen. Paul hatte das gerne angenommen –  nicht nur seiner Müdigkeit wegen.

Erstmalig seit langer Zeit spielt ein ausgeglichenes Lächeln um seine Lippen. Nichts mehr von dem sarkastischen Grinsen. Kein polterndes alles niederwalzende Lachen. Dieser Mund dient plötzlich nicht mehr dazu, jene menschenverachtende sprachliche Kotze zu gebären, die die anderen mittlerweile betreten aus Ihrer Wahrnehmung wischten, sondern er schenkt einem glücklichen Lächeln das Licht der Welt.

Seine Augen wandern prüfend über den Bug, die Segel, zum Firmament und verlieren sich irgendwo da vorne in der undurchdringlichen Finsternis. Es gab viel zu sehen in diesem Nichts.  Denn Josef füllte es mit seinen Erinnerungen. Er konnte dies, weil seine Gefühle jetzt unbelastet waren. Da war niemand mehr, von dem er meinte er würde ihn ständig in Frage stellen. Allein die Anwesenheit von irgendwelchen Leuten empfand er nämlich schon als Angriffe, gegen die er sich wehren musste.  Denen er beweisen musste dass er jemand ist. Er tat dies dann, indem er versuchte, sie von seiner überragenden Bildung zu überzeugen. Ihm fiel dabei gar nicht auf, dass niemand diese anzweifelte. Dies tat er mit strategisch durchdachten, grammatikalisch perfekt verschachtelten Sätzen und literarisch gewählten Worten der Hochsprache, verbrämt mit lateinischen Fremdwörtern. Worte und Sätze, die dazu dienten den anderen zu zeigen, dass er nicht nur ihre 500 Worte der Umgangssprache besitzt, sondern vielleicht 5000 oder mehr zu seiner Verteidigung zur Verfügung hatte. Worte, die ihn unangreifbar erscheinen lassen sollten. Worte, die jedem sofort respektvoll die ‚Schneid’ abkaufen sollten. Es reichte ihm nicht aus die anderen zu überzeugen, dass er noch jemand war, sondern dass er sogar sehr viel war.

Er fühlte sich so unendlich frei, wie er da allein auf seinem Steuerstuhl saß, der einem Pilotensitz glich und steuerte diese zehn Tonnen modernster Segeltechnik mit einer spielerischen Geschicklichkeit, die man diesem mächtigen Mann niemals zugetraut hätte, durch die Wogen des Meeres, die sich ehrfurchtsvoll vor seinem Bug teilten. Und der Wind war sein Verbündeter. Er wölbte die Segel gehorsam und verlieh seinem Boot die dazu nötige Kraft.

Wind, Meer, Wellen und Gerät klatschten Applaus, Standing Ovation. Nicht enden wollender Beifall verlieh ihm den seinem Gefühl nach gebührenden Titel ‚Herr der Meere’! Jenen Titel, den er so viele Jahre gesellschaftlich zu erkämpfen versucht hat. Völlig unerwartet war diese Anerkennung plötzlich da. Ein Druck war weg. Er wusste selbst nicht, aus welchem Material dieser tonnenschwere Felsbrocken, der da auf seiner Seele lag, bestand. Es interessierte ihn in diesem Moment auch gar nicht. Josef verschmolz in der Harmonie der Elemente. Und die aufgehende Sonne begann seinen Körper mit wohltuender Wärme zu umhüllen. So als wollte sie sagen: „Friede sei mit Dir!“

Wieder huschte ein friedvolles Lächeln über seine Lippen und verbreitete sich sanft über sein bartumrandetes Gesicht bis in die letzte Stirnfalte und ließ auch die zornigste verschwinden.  Der Friede gelangte selbst in die Haarspitzen und floss wie Milch und Honig über seinen ganzen Körper. Er gab sich ihm hin, ließ geschehen.

Josef war als Einzelkind in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen, von der Mutter verwöhnt, vom Vater mit Reichtum umgeben. Er war immer ein braver Junge gewesen, der in einem altsprachlichen Gymnasium mit Latein und Altgriechisch die nötige Bildung erhalten hatte und dieses mit Bravour abschloss. Später heiratete er eine noch wohlhabendere Frau, die mit ihrer einfachen Schulbildung eigentlich überhaupt nicht seinen Vorstellungen entsprach. Sie war nicht unattraktiv, das reizte natürlich Josef. Und den Eltern kam eine kapitalvermehrende Verbindung ohnehin sehr entgegen. Obwohl sie sich als eine überaus liebenswerte Partnerin entpuppte, sich rührend um ihn kümmerte und ihn versorgte, schämte er sich häufig ihrer Oberflächlichkeit. Oft ärgerte ihn Ihre Unfähigkeit, hinter die Kulissen des Lebens zu schauen und Zusammenhänge zu erkennen Hätte sie jedoch darüber verfügt, wäre er ihr gerade dadurch sicher gar nicht mehr  so liebenswert erschienen.  Er wünschte sich also etwas, was eigentlich den Ast, auf dem er saß absägen würde. Das geschieht häufig in Beziehungen, wenn eine andere Person mit Eigenschaften fasziniert, die der eigene Partner nicht hat. Sehr schnell sind dann die positiven Eigenschaften des eigenen Partners vergessen, über die der andere nämlich nicht verfügen würde. Aber das merkt man erst später.

Lesen? Ja sie las. Sie las die Liebesromane von Mario Simmel, die Fortsetzungsromane in der „Frau im Bild“.

Bild? Ach ja, die Bildzeitung las sie und betrachtete dies aus Josefs Sicht wohl als ein politisches Magazin. Wenngleich sie selbst hiervon meist auch nur die Bilder las.

Deswegen nahm er sie auch sehr ungern in Gesellschaft mit. Zu schnell hätten diese Leute seinen ‚Schwachpunkt Ehefrau’ erkennen können.

‚Mit welcher blöden Gans gibt sich der Josef da ab?’ hätten sie denken können. Und sie hätten sogar recht damit, dachte Josef. Nun alles im Leben hat seinen Preis. Die anderen konnten ja den größten Vorzug dieser Frau gar nicht kennen. Das Dumme war, er konnte es jenen auch nicht sagen. Denn es war der Vorzug, dass er bei ihr seine Hülle – und damit ist nicht nur seine Kleidung gemeint – fallen lassen konnte. Vor ihr konnte er ganz nackt dastehen und sie – mochte ihn immer noch. Ein unschätzbarer Vorzug der ihm das Überleben in einer aus seiner Sicht so feindlichen Gesellschaft möglich machte.

Als er sein Studium der Betriebswirtschaft mit der gewohnten Gründlichkeit abgeschlossen hatte übernahm er den millionenschweren Betrieb seines Schwiegervaters. Er genoss das luxuriöse Leben der High Society, lernte fliegen, unternahm ausgedehnte Ausflüge mit seinem Sportflugzeug, erwarb sogar die Hubschrauberlizenz. Auch beim Rallye fahren spielte er mit. Als eher weniger als mehr erfolgreicher Fahrer befand er sich in einer Gesellschaft nationaler und internationaler Trophäenträger. Immerhin. Drin war er. Dabei sein ist alles. Er war wer. Davon zeugten auch seine Armani-Anzüge. Sein Geschäft führte er gewissenhaft. Allerdings nicht gewissenhaft genug um herauszufinden, was sein Buchhalter da mit der damals aufkommenden Computertechnik anstellte. Und so kam es zum großen Knall. Zum Totalzusammenbruch. Der Firma – und seiner selbst. Übrig blieb ein Schuldenberg von vielen Millionen.

Und er war plötzlich niemand mehr.

Im Kreise seines bisherigen Umgangs bestenfalls ein armes, bedauernswertes Würstchen. Die Einladungen wurden weniger und blieben langsam ganz aus. Er war nicht mehr interessant und man versprach sich auch keinen Vorteil mehr, ihn zu kennen.

Und die anderen, die in seinen Augen bisher schon „niemand“ waren, ja – die kannte er nicht, weil er selbst sich nicht mit ihnen abgegeben hatte. Und so war er allein. Nur seine Frau war treu an seiner Seite geblieben.

Er war so ‚wenig’ geworden, dass in seiner mehrfach geblätterten, mit Kreditkarten gefüllten Geldbörse keine Karte mehr übrig geblieben war. In der gähnenden Leere befindet sich heute wieder eine: die seiner Frau. Denn er bekommt keine mehr. Weil er gerade für Banken ein ‚Niemand’ ist.

Gott sei Dank ist wenigstens ein Teil des Vermögens seiner Frau übrig geblieben. Und so blieb doch noch ein luxuriöses Haus mit Edelholz-Innenausbau, teuren Keramiken und wertvollen Möbeln. Auch ein seinem ehemaligen Stand gemäßes neues Auto der deutschen Oberklasse und zum Beispiel dieser Karibiktörn sind immer noch drin. 

Anfangs wollte er sich das Leben nehmen. Am liebsten hätte er zu einem Butler gesagt: „James, erschießen Sie sich für mich, ich bin Pleite!“ Aber James gab es nicht mehr. Und so griff er statt zum Strick zu einer leichteren Lösung: der Flasche.

Jahrelang. Keinen Fusel etwa, sondern edle Tropfen. Sein Weinkeller war schier unerschöpflich. Und das Geld seiner Frau reichte aus ihn regelmäßig wieder zu füllen.  Dies und die kalorienreiche bayerische Kost füllten nunmehr sein Leben und seinen Körper immer mehr an. So sehr, dass die Armani-Anzüge nicht mehr passten. Er verschenkte sie kurzerhand der Kleidersammlung für arme Bosnier und kleidete sich fortan in Bluejeans und einem großkariertem Hemd.  Für den Sonntag hatte er sich einen Trachtenanzug gekauft und im Garten wanderte er am liebsten in seiner Lederhose herum. Er hatte die fixe Idee, sein „Ich“ durch ein konträres Äußeres wieder aufzubauen. Als der einzig wahrlich gebildete Bayer. Ein großes Schild neben seine Haustür mit der Aufschrift ‚Freistaat Bayern’, und dem Staatswappen mit den Löwen darauf sollte zeigt seitdem jedem Neuankömmling, dass hier sein Reich beginnt. Das er beherrscht.

Hier draußen, allein hatte er ein ähnliches Gefühl. Nur hier schien sein Reich unendlich größer. Größer als jeder Kontinent. Der ganze Ocean war sein.

Seine Leibesfülle aber störte ihn doch gewaltig. Sa traf es ihn zutiefst als Johnny ihn aufforderte sich in dem Pilotensitz nicht zurückzulehnen, da er starke Bedenken hatte ob dieser der Belastung standhalten könnte. Seit einigen Jahren bekämpfte er sein Gewicht mit wechselndem Erfolg und dem bekannten Jojo Effekt. Für den Karibiktörn hatte er sich erneut einen Kampf gegen seine Pfunde vorgenommen. Zu Hause hatte er beim Packen schon mal seine Shorts vor dem Spiegel ausprobiert und war über den Anblick entsetzt. „Du bist echt eine widerlich fette Sau!“ hatte er das Spiegelbild genannt. Da Esma recht gut kochte, fiel es ihm besonders schwer, seinen Vorsatz einzuhalten. Daher bekämpfte er nachts heimlich in der Koje seine Rückfallgefahr mit besagter Flasche. Er war natürlich intelligent genug zu wissen, dass er sich selbst belog. Er war in einem Konflikt der ständig an seinen Wurzeln nagte. Wie Sisyphos in der griechischen Sage seinen Felsblock immer wieder den Berg hinaufrollen musste um ihn dann oben zu verlieren so bemühte er sich, umgekehrt, seine Kilo herunterzukriegen – und sie stiegen immer wieder an. Er war Gefangener seines Schicksals. Und dieses überschattete seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft.

Dabei wäre die Lösung für jeden Außenstehenden so einfach. Er bräuchte nur er selbst zu sein. Nackt. Nur Ja zu sagen, Ja zu sich selbst. Er müsste beginnen sich selbst zu lieben. Denn er konnte sich nämlich selbst nicht leiden. Besonders, wenn er vor dem Spiegel stand. Dann hasste er  dieses Spiegelbild. 

„Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!“ heißt es in der Bibel. Und diesen Spruch befolgte er konsequent.

Aber von all diesen Gedanken, Hintergründen und Ängsten ist Josef heute und hier weiter entfernt als je zuvor. Dieser Friede, diese Harmonie der Stunde hat ihm den Syssyphosstein für eine Pause abgenommen. Inständig hofft er, die anderen würden weiterschlafen. Bis in alle Ewigkeit und dieser Moment könnte ebenso lange anhalten. Er ist wieder ein unbeschwertes Kind geworden. Umsorgt und verstanden von einer liebevollen Mutter. Es ist die Mutter Natur.

Ein Vogel setzt sich auf den Baum. In Ermangelung eines echten Baums. Wie symbolisch. Der ‚Baum’ ist die untere Querstange des Großsegels. Als kenne der Vogel diese Bezeichnung aus der Seemannssprache. Josef hatte schon längere Zeit sein argwöhnisch suchendes Kreisen um das Boot bemerkt. Und nun hüpft der schwarze Vogel auf das Deck. Er tippelt  ein paar Schritte an die Windschutzscheibe hinter der Josef sitzt heran, tritt einen Schritt zurück, und bleibt stehen. Unsicher hält er den Kopf schräg und blickt Josef mit einem Auge an. Josef will ein Stück Brot holen, aber er wagt es nicht, sich zu bewegen. Aus Angst er könnte den Vogel verscheuchen. Da hüpft der Vogel auf die Oberkante der Windschutzscheibe und betrachtet nun Josef mit dem gleichen Auge prüfend. Scheinbar gefällt Josef dem Vogel. Sie sitzen sich gegenüber, ganz nah, und schauen sich an. Minutenlang. Und jeder versuchte die Gedanken des anderen zu lesen.

‚Rumms!’, schlägt die Schiebetüre auf und rastet in ihre Arretierung.

„Schönen guten Morgen!“ lacht Esma. Der Begleiter fliegt erschreckt weg. „Möchtest Du ein schönes Frühstück?“

Damit trifft Esma in diesem Moment Josef gleich an zwei verwundbaren  Punkte auf einmal: Erstens hatte sie durch die Störung seine idyllische Zweisamkeit mit dem Vogel zerstört. Zweitens provoziert sie seinen ohnehin rebellierenden Magen und seinen Vorsatz.

„Nein Danke! Verschone mich mit Deinen erlesenen Speisen! Es reicht schon, dass du mir den Vogel verscheucht hast. Geht’s nicht noch ein bisschen lauter?“, antwortet er.

Fast entschuldigend fügt er nach kurzer Pause hinzu: „Aber ein Bier könntest du mir reichen!“ Die Realität hat ihn wieder. Und schlagartig setzt auch seine Müdigkeit ein. Lauter noch als Esma poltert er in die Stille des Cockpits, auf dessen Bank ich immer noch schlafe: „Kann hier jemand auch noch steuern statt nur schnarchen?“ Provozierend überhöre ich seinen Satz, stelle mich weiter schlafend. Josef denkt ‚noch einer der mich einfach ignoriert’ und wiederholt jetzt noch lauter und direkter: „Kruzifix Johnny, Du alter Schnarchzapfen, schau dass Du Deinen Arsch ans Steuer bewegst! Ich möchte auch mal schlafen!“ Ich empfinde Genugtuung über seinen Ärger, richte mich langsam auf, räkle mich, gehe an den Steuerstand – und schalte den Autopilot ein.

„Das hätt’ ich auch gekonnt!“ brummt Josef und begibt sich beleidigt in die Cockpitecke, wo er wenigstens sein Bier genießen konnte, das ihm Esma mittlerweile wortlos heraufgereicht hat. Der Autopilot steuert das Boot auf direktem Kurs. Weicht den Wellen nicht elegant wie Josef aus. Die Boot klatscht ruppig in die Wellen. Auch das hat Johnny kaputtgemacht. Traurig schaut er in die Richtung, in die der Vogel verschwunden war. Er ist endgültig weg. Die Welt ist gegen ihn, spürt er. Unverständliche Worte vor sich hingrummelnd verlässt er schließlich die unangenehme Gesellschaft dieser Proleten und verzieht sich in sein Schlafgemach. ‚Der Tag ist eigentlich schon gelaufen’, denkt er beim Hinuntergehen.

Eine Zigarette erscheint. Die Wasserpumpe beginnt zu laufen. Das Umblättern des Karibikführers ist zu hören. Ein paar Teller klappern.

‚Paris s’eveille!’

Der Tag erwacht.

Ein Auszug aus dem Buch: „Blicke nach Innen“ von Hans Sakowski